Montag, 10. Oktober 2016

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„Die Spitze wurde 1957 erreicht“

Wohl kein anderes deutsches Ministerium hat nach dem Zweiten Weltkrieg derart viele ehemalige NS-Funktionäre in Spitzenpositionen beschäftigt wie das Justizministerium. Zu dieser ernüchternden Erkenntnis kommt eine wissenschaftliche Kommission, die mit der späten Aufarbeitung der NS-Verstrickungen des deutschen Justizministeriums betraut wurde.
Wie aus dem nun fertigen Abschussbericht laut dpa hervorgeht, waren von den damals insgesamt 170 Abteilungs-, Unterabteilungs- und Referatsleitern, 53 Prozent ehemalige NSDAP-Mitglieder. Jeder fünfte dieser 170 leitenden Juristen war ein ehemaliger SA-Mann und 16 Prozent saßen schon im nationalsozialistischem Reichministerium der Justiz, wie die dpa mit Verweis auf ihr vorliegende Auszüge vom Abschlussbericht weiter bereichtet.
Im Durchschnitt lag die Zahl der ehemaligen NSDAP-Mitglieder im Untersuchungszeitraum von 1949/1950 bis 1973 deutlich über 50 Prozent und in manchen Abteilungen des Ministeriums zeitweilig sogar über 70 Prozent.
„Die Spitze wurde 1957 erreicht“, wie der Leiter der Historikerkommission, der Rechtswissenschaftler Christoph Safferling, gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“) sagte. „Damals waren 77 Prozent der leitenden Beamten ehemalige NSDAP-Mitglieder, vom Referatsleiter aufwärts.“ Safferling zufolge, habe man eine derart hohe Zahl nicht erwartet: „Wie sich zeigt, war die NS-Belastung im Justizministerium womöglich die höchste unter allen Bonner Ministerien.“

Gesetze nur oberflächlich „entnazifiziert“

Die personelle Kontinuität habe fatale Folgen gehabt - bis heute, heißt es. Sie habe den demokratischen Neubeginn belastet, behindert und verzögert. Viele Gesetze seien nur oberflächlich „entnazifiziert“ worden. Das führe dazu, dass bis heute in den Gesetzen Formulierungen und Ideen zu finden seien, die aus der NS-Zeit stammten - etwa der umstrittene Jugendarrest.
Darüber hinaus seien in der jungen Bundesrepublik Deutschland Opfer der Nazis weiter diskriminiert worden - etwa Homosexuelle. Und schließlich habe das deutsche Justizministerium Völkermördern und Kriegsverbrechern geholfen, indem es deren Strafverfolgung systematisch verhinderte.
Als das Ministeirum 1973 von der Rosenburg in die „Kreuzbauten“ in Bad Godesberg umzog, war NS-belastetes Personal zwar aus Altersgründen weitgehend ausgeschieden. Doch die Schatten der Vergangenheit existierten noch immer, wie der dpa zufolge etwa die Diskussionen um Wiedergutmachung für die Opfer von Zwangsarbeit und NS-Unrechtsjustiz bewiesen.

Beispiel Eduard Dreher

Die Studie, die unter dem Titel „Die Akte Rosenburg“ ab Montag auch im Buchhandel zu finden ist, listet der „SZ“ zufolge etliche Beispiele für Juristen auf, „die trotz schwerster Belastung weiter Karriere machen konnten“. Als Beispiel wird in der Zeitung etwa der ehemalige Staatsanwalt des Innsbrucker NS-Sondergerichts Eduard Dreher genannt, der in den Fünfzigerjahren zu einem der einflussreichsten Strafrechtler im Bonner Ministerium aufstieg und viele Jahre später mit dem „Dreher“ auch einen wichtigen juristischen Kommentar zum deutschen Strafgesetzbuch verfasste.

„Zweite Schuld“

Der deutsche Justizminister Heiko Maas (SPD) spricht laut „SZ“ von einer „zweiten Schuld“, da die Juristen der Nazizeit nach dem Krieg „altes Unrecht, das aufgearbeitet hätte werden sollen, gedeckt und neues Unrecht geschaffen“ hätten. Nun gelte es Maas zufolge, Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen und das heißt: „Gegen extremistische Taten muss der Rechtsstaat mit aller Konsequenz vorgehen.“
Die hinter der „Akte Rosenburg“ stehende Historikerkommission wurde von der ehemaligen FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Scharrenberger 2012 ins Leben gerufen. Neben Safferling war auch der Historiker Manfred Görtemaker mit der Leitung der Kommission beauftragt.